Digitalisierung im Mittelstand
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Auszug aus dem Vortrag am Deutschen Schneidkongress 26.04.2023 von Dr. Marco Münchhof.
Mit IoT-Technologien Maschinen herstellerunabhängig vernetzen und Einsparungspotentiale in der Fertigung erschließen
Die digitale Kluft zwischen großen und kleinen Unternehmen im Mittelstand wird größer: Während große Unternehmen ihre Produktionslinien bereits weitgehend digital vernetzt betreiben, stehen kleine und mittlere Betriebe häufig noch am Anfang. Großkonzerne scheinen durch vermeintlich höhere finanzielle Ressourcen Takt und Tempo der digitalen Transformation vorzugeben. Doch dank der einfachen Skalierbarkeit von IloT-Lösungen kann insbesondere der Mittelstand von zahlreichen Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren.
Setzen sich Interessenten zu Beginn mit dem Thema Digitalisierung im Mittelstand auseinander, wird man von einer Vielzahl an Begriffen erschlagen. Schnell hat man das Gefühl, einen Berg vor sich zu haben, der nicht erklommen werden kann. Um sich dem Thema anzunähern, ist es daher hilfreich, sich anzuschauen, was Digitalisierung nicht ist.
Was ist Digitalisierung nicht?
Digitalisierung…
- ist kein Selbstzweck, sondern muss einen Mehrwert generieren
- dreht sich nicht um „Big Data“, sondern um „Right Data“
- Daten müssen aggregiert und sinnvoll zusammengeführt werden
- macht keinen „schlechten“ Prozess automatisch besser – hilft aber ungemein bei der Optimierung. Durch die Digitalisierung werden Kenngrößen geliefert, die dabei helfen, den Prozess zu bewerten und verbessern.
- startet selten auf der grünen Wiese, sondern muss (fast immer) auch Bestandsanlagen berücksichtigen
- ist kein Selbstläufer, sondern ein Change-Prozess und muss die Mitarbeitenden mitnehmen
- ist nicht der „Big Bang“, sondern kann (und sollte) Schritt für Schritt eingeführt werden
Checkliste für die Digitalisierung I4.0 im Lohnschneidbetrieb
Digitalisierung des Unternehmens beginnt mit dem ersten Schritt: Dem Datenbankmodul
Checkliste für die Aufgaben, die eine Datenbank zu übernehmen hat:
- Die Digitalisierung ist die Vorstufe und Bedingung für ein Industrie 4.0. Es gilt, eine effiziente Datensammlung einzuführen. Daten aus allen Prozessen und Abteilungen werden in dieser Datenbank erfasst.
- Durch eine optimale Datenverknüpfung gelangen die einmal in der Fakturierung erfassten Daten an die richtigen Arbeitsplätze.
- Daten müssen nur einmal eingegeben bzw. erfasst werden, was die Fehleranfälligkeit erheblich reduziert.
- Lagerbestände und Fertigungsdaten können so gemeinsam erfasst und die Informationen an entsprechende Stellen weiter geleitet werden.
- Die Datenbank sollte auch über die grundlegenden Mechanismen für die eigene Wartung und Reorganisation verfügen.
- Index-Erstellung, Komprimierung, und Wiederherstellung nach Absturz sollte die Datenbank beherrschen.
Es versteht sich von selbst, dass derart komplexe Daten mit der richtigen Aufbereitung auch zu einer erheblich präziseren Kalkulation von Bauteilen führen, da dem System alle realen Prozessdaten, Verbrauchskosten und Auslastungen bekannt sind.
Das Datenbank-Modul sorgt für Übersicht
Ohne Datenbank-Verwaltung geht gar nichts! Mögliche Fragestellungen an eine Datenbank könnten lauten: Finde eine bestimmte/s/n ...
- Auftragsnummer,
- Material und Stärke,
- Auftragsdatum,
- Kundenname,
- aber auch den Auftrag mit der Fläche x, dem Gewicht y und Aussenabmessungen x mm,
- die geschnittenen Teile aus Juli 2017,
- die offenen Jobs von letzter Woche,
- den Lagerbestand an S355 12mm,
- Multi-User und netzwerkfähig fähig muss sie sein.
Aufträge, Jobs, Teile und Bleche sollen erfasst und auch terminlich überwacht werden. Manche Datenbanksysteme gehen weiter und decken sogar den Bereich der PPS-Software (Produktions-Planungs-Software) oder MES (Manufacturing Execution System) ab. Sie ermitteln die Auslastung der Maschinen, verteilen die Aufträge sinnvoll und sorgen für mehr Transparenz im Unternehmen. Sie informieren über Auftragsstand und Fertigungstermine auch über Cloud-Anwendungen auf die Tablet-PCs der Betriebsleiter und Geschäftsleitungen. Verwalten Gutteile und Ausschuss und setzen die Anlagen und anderen Ressourcen sinnvoll und wirtschaftlich ein. Für manche Kunden kann auch eine Ankopplung an übergeordnete ERP-Systeme von Interesse sein.
In der Regel nutzen die meisten Systeme eine hierfür geeignete SQL-Datenbank, die relational arbeitet und kaum bis keine Datenlimits kennt.
Digitalisierung in vier Phasen
Auf dem Weg zur Digitalisierung gibt es vier Phasen (s. Abbildung), die Orientierung geben und sich als Handlungsempfehlung und Vorschlag für mittelständische Unternehmen verstehen:
- Zunächst müssen digitale Schnittstellen zu allen Geräten auf der Feldebene etabliert werden, damit Daten erfasst werden können. Um am Ende des Prozesses den Produktfluss in der Fertigung betrachten zu können, müssen Produkte (mit z. B. Warenträger, Beschriftung) gekennzeichnet werden. Die Steuerung sollte als Daten-Gateway genutzt werden, um nicht nur einzelne Daten zu sammeln, sondern um sich Querverbindungen zunutze zu machen, d. h. Daten zu aggregieren.
- Die gesammelten und gespeicherten Daten können nun strukturiert, gefiltert, validiert und visualisiert werden. Dadurch kann der IST-Zustand der Produktion transparent dargestellt werden.
- Im nächsten Schritt können Digitalisierungsdienste etabliert werden, wie eine Produktionsplanung, Prozessführung, Vorausschauende Wartung und Bestandsführung.
- Im letzten Schritt können oder sollten Geschäftsmodelle angepasst werden (kunden-, service- oder lebenszyklusorientiert).
Insgesamt ist wichtig, dass in jeder Phase Mehrwerte generiert werden, damit eine Zielerreichung möglich ist.
Digitalisierung führt zur Optimierung
Digitalisierung kann ein Ausgangspunkt für die Optimierung sein
Optimierung beinhaltet das Ausdenken von Maßnahmen (Plan), dass diese umgesetzt werden (Do) und dann überprüft wird, ob eine Verbesserung erzielt oder gar das Ziel erreicht wurde (Check). Sollte dem nicht so sein, gilt es, weitere Maßnahmen einzuleiten (Act). Eine Umfrage zum Machine Learning ergab, dass lediglich 31,7% der Befragten über Bewegungsdaten ihrer Produkte und 31% über Betriebsdaten verfügen, folglich also häufig noch keine Daten vorliegen, um die Maßnahmen überprüfen zu können. Ein erster Mehrwert der Digitalisierung stellt demnach die Transparenz dar, um damit weitere Maßnahmen zur Optimierung einzuleiten, wie z. B. die Maschinenauslastung zu verbessern.
Technische Realisierung
Wie Digitalisierung technisch realisiert werden kann, hängt von der Perspektive ab.
- Rot: Bei der Maschinen-zentrierten Sichtweise geht es darum, die Auslastung der Maschinen (OEE-Kennzahlen), Störungs- und Wartungsmeldungen, Verbräuche von Hilfsstoffen und z. B. Verbrauch von Werkzeugen zu erfassen und zu bewerten.
- Blau: Aus Produkt-zentrierter Sicht muss Digitalisierung gewährleisten, das Produkt von digitalen Fertigungsdaten bis zur Realisierung in der Fertigung nachzuverfolgen, auch inkl. aller digitaler Zertifikate für z. B. Rohmateriale. Dafür ist insbesondere eine Produktkennzeichnung unerlässlich. Produkt-zentrierte Sicht kann z. B. eine Aufteilung von Fertigungsschritten, Materialhandling oder optimiertes Anliefern von Hilfsstoffen bedeuten.
- Grau: Die Fertigungs-zentrierte Sicht beinhaltet die Fragen „Wie viel Geld ist im Lager, in Verschleißteilen, den Materialien und Rohstoffen etc. gebunden?“
Digitalisierung bedeutet jetzt, dass die vorhandenen Maschinen ans eigene IT-Netz angeschlossen werden, wobei es verschiedene Ausbaustufen gibt. Bei aktuellen Maschinen (Idealzustand) besteht durch einen Feldbus eine durchgängige Vernetzung aller Komponenten in der Maschine. Durch diese intelligente Komponenten werden Daten voraggregiert. Durch die Steuerung kann direkt auf Daten zugegriffen werden.
Bei neueren Bestandsmaschinen, die noch keine Feldbusanbindung haben, kann durch Nachrüstung in der Steuerung auf die internen Komponenten zugegriffen werden.
Bei älteren Bestandsmaschinen, bei denen keine Anleitungen/Servicepartner mehr vorliegen oder vorhanden sind, kann versucht werden, analoge und digitale IOs über die Steuerung einzulesen. Selbst eine simple Informationsgenerierung über ein Ampelsystem (rot = Maschine läuft nicht, gelb = Fehlerzustand, grün = Maschine läuft) würde einen Mehrwert bei der Bewertung der Fertigung darstellen.
Drei Begriffe der Digitalisierung: OPC UA, MQTT, Digitaler Zwilling
Drei Vokabeln, mit denen man häufig konfrontiert wird, sind OPC UA, MQTT und Digitaler Zwilling.
1. Das Kommunikationsprotokoll: OPC UA
OPC UA ist ein Kommunikationsprotokoll, aber kein Informationsmodell. D. h., mit einer Maschine, die OPC UA hat, kann zwar kommuniziert werden, aber sie stellt noch lange keine Informationen zur Verfügung. Das Kommunikationsprotokoll setzt auf den klassischen Internetprotokollen TCP/IP und UDP auf, d. h. es kann in der Fertigung auch im normalen „Office Network“ übertragen werden.
Die Daten sind typisiert und mit semantischen Informationen angereichert, wie z. B. der Einheit oder auch einer mehrsprachigen Beschreibung des Datenwertes, was - konsequent genutzt - Verwechslungen vorbeugt. Daten sind hierarchisch im Sinne einer Baumstruktur abgelegt und es ist ein lesender und schreibender Zugriff auf Echtzeit-Daten möglich. Alarme und Meldungen werden ebenfalls übertragen und quittiert, weiterhin können über „Programs“ Funktionen auf einer Maschine oder einem Gerät ausgelöst werden. Dabei ist es nicht nötig, dass jeder Sensor und Aktor ein eigener OPC UA Server sein muss – die Steuerung wird ein zentrales Daten-Gateway für die Maschine, da die Daten im allgemeinen vorverarbeitet und aggregiert werden müssen. Die Aggregation geht dabei über die Daten des einzelnen Sensors/Aktors weit hinaus. OPC UA selbst definiert keine standardisierten Informationsmodelle, d. h. es gibt an dieser Stelle noch keine Idee, was übertragen werden soll.
2. Das Parallelprotokoll: MQTT
MQTT ist das „Parallelprotokoll“, das im Kontext der Digitalisierung häufig genannt wird und das in einigen Aspekten anders ist als OPC UA. Beide haben dabei ihre Berechtigung und Vorteile. Sensoren oder Geräte mit geringen eigenen Ressourcen werden häufig per MQTT in Cloud-Anwendungen integriert. MQTT ist nicht an hierarchische Objektmodelle gebunden. Es ist von der Struktur her sehr robust angelegt und damit vergleichsweise unempfindlich gegenüber Ausfällen und Daten-Verlusten. Zudem ist es leichtgewichtig, d. h. es kann mit geringem Aufwand implementiert werden.
MQTT kann seine Vorteile dort ausspielen, wo Verbindungen „unzuverlässig“ sind, beispielsweise bei der Übertragung über lange Strecken oder per Funk. Überall dort, wo man mit einer leistungsfähigen Steuerung als OPC-UA-Datenserver in räumlich begrenzten Netzwerken arbeiten kann, sollte man jedoch besser direkt auf semantisch strukturierte Daten zurückgreifen. Da außerdem innerhalb eines Produktionsnetzwerks die Datenverbindungen stabil sind und ausreichend Bandbreite zur Verfügung steht, spricht bei dieser Anwendung wirklich alles für OPC UA. Für datenarme, aber zeitkritische Anwendungen wie die 3D-Darstellung eines Digitalen Zwillings im HMI kann MQTT indes durchaus eine gute Wahl sein, wenn es um eine möglichst flüssige Echtzeit-Darstellung der Anwendung geht. (OPC UA soll bzw. wird mit „PubSub“ mit einem ähnlich schnellen Kommunikationspfad ausgestattet werden.)
2. Das Datenmodell: Digitaler Zwilling
Mit Digitaler Zwilling ist ein Datenmodell gemeint, das z. B. den Namen und den Status der Steuerung, unterstützte Technologien der Maschine, Fehlerzustände etc. enthält. Das Datenmodell ist nicht Teil von OPC UA, jedoch gibt es Standardisierungsgremien z. B. UMATI (universal machine tool interface). UMATI wird im Werkzeugmaschinenbereich vom VDW initiiert, mit dem Ziel einem entsprechenden Schnittstellenstandard für Werkzeugmaschinen bereitzustellen, der Anlagen sicher, naht- und mühelos in kunden- und anwenderspezifische IT-Ökosysteme integrieren kann.
Für den Brennschneidbereich existiert das Industry Business Network 4.0, das sich der Frage widmet, wie Daten herstellerübergreifend standardisiert, eingesammelt und weiterverarbeitet werden können.
Wie oben bereits beschrieben, besteht für Bestandsmaschinen die Möglichkeit, sie über ein Multi-IO-Gateway, also eine Steuerung, die über viele Ein- und Ausgänge verfügt, einzubinden. (Ältere) Bestandsmaschinen stellen eine der Hauptherausforderungen bei der durchgängigen Datenerfassung dar. Sofern Zugriff auf die Maschinen-Software besteht, kann natürlich eine Nachrüstung in Software erfolgen. Sollte kein Zugriff mehr bestehen, kann über die Anbindung von digitalen und analogen Signalen zumindest eine grundlegende Einbindung erfolgen. Allein die Information über den Betriebszustand (Stillstand / Arbeitet / Fehler) kann bereits erste Erkenntnisse zur Optimierung aufzeigen.
Praktische Umsetzung mit Hilfe eines MMS-Systems
Wie sieht die Umsetzung der Digitalisierung in der Praxis aus?
Durch ein Machine-Management-System (MMS) können z. B. verschiedene Maschinen eingebunden, OEE-Kennzahlen und Alarmzustände erfasst und Schichtpläne abgebildet werden. Im MMS zeigen Dashboards aktuelle Echtzeit-Daten der einzelnen Maschinen an.
- Anhand einer Maschinenauftragshistorie kann bspw. nachvollzogen werden, wie lange die Maschine an einem Auftrag gearbeitet hat.
- Über eine Zustandsauswertung an der Maschine (OEE) kann die Effizienz der Maschine gemessen und durch geeignete Maßnahmen gesteigert werden.
- Fehlerzeiten können durch Transparenz und Reflektieren reduziert werden.
- Weiterhin kann z. B. das bestehende Schichtsystem abgebildet werden, sodass Maschinen schichtbasiert geplant und ausgewertet werden können, wodurch die Planung der Maschinen optimiert werden kann.
Fazit zur Umsetzung der Digitalisierung
- Zur Überwindung der digitalen Kluft werden einfache Vernetzungskonzepte benötigt.
- Digitalisierung ist kein „Big Bang“, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der in nutzbringenden Schritten durchgeführt werden sollte.
- Durch Digitalisierung ist noch kein Prozess von selbst besser geworden, aber nur das, was man misst, kann man auch verbessern.
- Bei der Analyse von Prozessen kommt es darauf an, die richtigen Daten zu sammeln und zu aggregieren (über Geräte- und Prozessgrenzen hinweg).
- Es gibt die verschiedensten Sichtweisen bei der Digitalisierung: Die Maschinen-zentrierte Sicht, die Produkt-zentrierte Sicht und die Fertigungs-zentrierte Sicht.
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